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Wetter­berichte

 

Die Arbeit illustriert und collagiert eine moderne Arche Noah Geschichte von Fabienne Pakleppa. Wie in einem Tagebuch ziehen sich die Einträge durch die Seiten. Die letzten Augenblicke der dem Untergang bestimmten »sündigen« Familie die auf dem Dach ihres Hauses Rettung vor den Fluten sucht. Unter dem Eindruck des nahenden Todes offenbaren sich Verzweiflung und Niedertracht auf vielfältigste, zum Teil skurrile Weise.

Die Bilder untermalen die Erzählung indem sich die abgebildeten Personen immer mehr auflösen. Mit einer Ätztechnik wurde von einem Originalbild in kleinen Einzelschritten die bildtragende Farbe »ausgewaschen«. Am Ende ist nichts mehr und das Wasser steigt und steigt und steigt …

 

 

Wetterberichte

Es regnet. Das Wasser steigt und steigt und steigt
von Fabienne Pakleppa

 

Mai
Das Wasser steigt. Im Radio haben sie weitere Regenfälle angekündigt. Im Kaufhof gibt es schon lange keine Gummistiefel mehr. Wenn es so weitergeht, wird es eine Katastrophe, besonders für die Landwirtschaft, das haben sie gesagt. Uns stört das Wetter nicht, im Gegenteil. Angeblich ist Regenwasser gut für die Haut. Grete steht stundenlang am Fenster, streckt ihr Kinn hinaus und bietet ihr Gesicht den Tropfen an. Hoffentlich stürzt sie nicht ab.

 

10. Mai
Gestern haben wir alle Weinflaschen nach oben gebracht. Es war anstrengend. Im Keller steht das Wasser schon kniehoch Frau Tietz behauptet, dass sie eine Ratte gesehen hat, aber wir denken, dass es eine Ausrede war. Wir haben keine Ratte gesehen und die Schlepperei allein erledigt. Dafür hat sie uns Gläser mit eingemachten Birnen geschenkt und zwei Dosen Schokoladensoße von Hershey, so haben wir zum Nachtisch Birne Helene gegessen. Grete hat versucht, das Ganze mit Calvados zu flambieren, das klappte nicht richtig, hat aber trotzdem gut geschmeckt. Das Fernsehen funktioniert nicht mehr, das liegt an dem unterirdischen Kabelanschluss, der jetzt unter Wasser steht. Wir haben uns vorgenommen, die alte Antenne auf dem Dach zu richten. Das Tief über dem Atlantik soll in den nächsten Tagen weiterziehen.

 

1. Juni
Es stimmt, dass es Ratten gibt. Seit die Keller voller Wasser sind, haben wir sie öfter im Erdgeschoss gesehen. Sie können gut schwimmen. Frau Tietz regt sich nicht mehr über sie auf, auch nicht darüber, dass ihr Vorrat an eingemachten Birnen weg ist. Der Calvados auch. Obwohl es seit einer Woche nicht mehr regnet, gibt es Pläne für eine Evakuierung. Zuerst sollen die Kinder weggebracht werden. Uns ist nicht klar, wohin man sie bringen will, deswegen möchten wir, dass sie zu Hause bei uns bleiben. Nathan hat angefangen, ein kleines Floß zu bauen. Wenn es fertig st, möchte er eine Ratte zähmen und ihr las Paddeln beibringen. Die Fernsehantenne auf dem Dach ist gerichtet, aber wir empfangen leider nur noch ein Programm. Wir wissen nicht, ob es an der Antenne liegt oder ob die anderen Sender unter Wasser stehen. Gott sei Dank ist nicht die ARD übrig geblieben, sondern ein Privatsender, mit viel Werbung und Spielen und Filmen und Sportübertragungen. Gestern haben wir die Olympischen Spiele von 1984 in Los Angeles angeschaut. Es war spannend. Als Carl Lewis gewonnen hat, haben wir vor Freude geschrien. Aber an der Kleidung der Leute sah man, dass es schon ziemlich weit zurückliegt. Die Leute haben sich damals seltsam angezogen. Ob die Nachrichten, die wir empfangen, aktuell sind, wissen wir nicht. Seit es keine Zeitungen mehr gibt, haben wir keine Vergleichsmöglichkeit. Nur der Wetterbericht stimmt fast immer. Für morgen sind 28 Grad angekündigt.

 

29. Juni
Wir dachten, es sei schon der 4. Juli, aber wir haben uns wohl geirrt. Im Fernsehen in der rechten Ecke oben steht eindeutig 29. Juni. Die müssen es wissen. Das Haus ist still geworden, seitdem sie die Kinder abgeholt haben. Nathan hat sich wie ein Teufel gewehrt, aber sie haben ihn doch mitgenommen. Wir haben in seine Reisetasche die gezähmte Ratte und das Floß heimlich eingepackt, man weiß nie, wofür es gut ist. Vielleicht kann er uns seine neue Adresse von der Ratte überbringen lassen. Ratten sind auf alle Fälle viel klüger als Tauben, davon sind wir alle überzeugt. Es gibt sowieso fast keine Tauben mehr, weil sie besser als Ratten schmecken, die haben wir zuerst gegessen. Nach drei Tagen wusste Nathans Ratte, dass sie jetzt Moses heißt. Sie hat sich auch von uns streicheln lassen. Aber geschlafen hat sie nur bei Nathan, in seiner Achselhöhle. Grete ist bei uns geblieben. Sie hat über ihr Alter gelogen, sonst hätten sie sie auch mitgenommen. Als der Bus mit den Kindern weg war, hat sie sich in ihrem Zimmer eingesperrt und geweint. Jetzt kann keiner mehr wegfahren, die Straßen sind total überflutet, und das Wasser steigt immer noch.

 

29. Juni noch einmal
Wir sind sicher, dass einige Tage vergangen sind, nur wie viel, das wissen wir nicht. Im Fernsehen hat sich das Datum nicht geändert. Auch die Uhrzeit bleibt stehen. Etwas ist wahrscheinlich kaputt.  Frau Tietz hatte eine gute Idee: Wir sollten Einkerbungen im Treppengeländer machen, um den Überblick über die vergehende Zeit zu behalten. Wir haben heute damit angefangen. Die erste Einkerbung mussten wir 29. Juni nennen, obwohl wir annehmen, dass es eher Ende Juli ist. Es regnet wieder. Das Erdgeschoss ist geräumt worden. Wir haben die Schränke zerlegt und alles Holz nach oben gebracht. Leider haben wir keine Ahnung von Schiffbau. Wir wissen nicht, wie wir die Bretter biegen könnten. In Nathans Buch des Wissens sind die Erklärungen nicht ausführlich genug. Unser erster Versuch, das Holz mit Feuer aufzuwärmen, hat nur dazu geführt, dass die Wohnung voller Rauch war, und der Teppich hat seitdem größere Brandflecken.

 

7. Juli
Das Wasser im Treppenhaus erreicht schon unsere erste Einkerbung. Es scheint schneller zu steigen. Frau Tietz hat uns gestern ihre letzte selbst gemachte Marmelade geschenkt. Erdbeere und Aprikose hatte sie noch, mehrere Gläser von jeder Sorte. Sie hat uns geraten, die leeren Gläser und die Deckel aufzuheben. Das kann immer nützlich sein, sagte sie, man weiß nie wofür. In dem Zehn-Uhr-Quiz war sie besser als die Fernsehkandidaten, sie kannte die Namen aller Hauptstädte von Europa und Afrika. Asien kam nicht dran. Wir haben ihren Sieg gefeiert und zu viel getrunken. Dann hat sich Frau Tietz zurückgezogen. Sie wollte schlafen gehen. Wir mussten ihr versprechen, dass wir nicht nur die Gläser und die Deckel aufbewahren, sondern auch noch alle Flaschen und alle Korken. Einer nach dem anderen haben wir die Hand gehoben und gesagt: Ich schwöre es. Das hat sie von uns verlangt. Heute ist sie nicht mehr da. Grete, die immer noch ihr Gesicht zum Fenster hinaushält, damit es durch den Regen schöner wird, sagt, sie hätte Frau Tietz gesehen, wie sie im Nachthemd aus dem Fenster gestiegen und in Richtung Post geschwommen sei. Wir nehmen an, dass sie untergegangen ist, weil sie nicht wiedergekommen ist. Wir können uns nicht vorstellen, was sie bei der Post gesucht hat. Briefe schickt niemand mehr, auch keine Pakete. Und dort ist das Telefon wie überall außer Betrieb.

 

11. August
Leider gibt es keine Nachrichten von den Kindern. Wir nehmen an, dass das Wasser weltweit steigt und dass Venedig und Amsterdam schon verschwunden sind, aber wir haben keine Information. Im Fernsehen wurde in den letzten Nachrichten der Wahlsieg von Jimmy Carter bekannt gegeben, und wir glauben nicht, dass er nach so vielen Jahren noch einmal gewählt wird, also muss es sich um eine frühere Wahl handeln. Niemand erinnert sich an das genaue Datum, nur an die Erdnüsse. Das letzte Sägeblatt ist abgebrochen, so haben wir unsere Versuche, ein Schiff zu bauen, aufgegeben. Wir hätten sowieso nicht genug Nägel gehabt. Wir wohnen jetzt alle im dritten Stock und hoffen, dass das Haus noch eine Weile hält. Die Feuchtigkeit hat es unterspült, und der Fußboden vom zweiten Stock ist einfach abgebröckelt. Wir können von Glück reden, dass die Treppe stabil ist, so konnten wir uns nach oben retten. Grete schreibt Liebesbriefe und schickt sie per Flaschenpost weg. Frau Tietz hatte Recht, leere Gläser können immer nützlich sein.

 

Oktober
Das Treppengeländer ist unter Wasser, wir machen keine Einkerbungen mehr. Das Datum interessiert niemanden. Wir nehmen an, dass es Oktober ist, wegen des Lichtes. Die Sonne steht schräg, und die Tage kommen uns kürzer vor, aber nicht sehr. Es ist ein wenig stürmisch geworden, das Haus gegenüber ist eingesunken. Das unsere noch nicht. Im Wasser treibt im Moment ziemlich viel Dreck vorbei, Kochtöpfe, Frauenkleider, Bretter, aufgeweichte Matratzen und ganze Kisten voller Gemüse. Es ist so schmutzig, dass wir wenig Lust haben, schwimmen zu gehen, aber wir tun es trotzdem. Wir üben jeden Tag. Es war nicht einfach, bis wir unsere Angst vor dem Wasser überwunden hatten. Inzwischen sind wir alle passable Brustschwimmer geworden. Ab morgen wollen wir es mit dem Rückenschwimmen versuchen.

 

November
Immer noch keine Nachrichten von den Kindern. Grete hat eine Flaschenpost aufgefangen, darin war der Liebesbrief eines Unbekannten zusammengerollt. Grete hat ihn gelesen und geweint. Das arme Mädchen tut uns Leid. Ihre Antwort wurde von der Strömung in die falsche Richtung getrieben. Der Unbekannte wird sie nie lesen. Grete hat das Schreiben eingestellt und lernt verbissen, gegen den Strom zu schwimmen. Die ersten Fische haben wir gefangen und gebraten, das war eine willkommene Abwechslung in unserem Speiseplan.

 

Januar oder irgendwann
Gestern ist ein Stück Holz vorbeigeschwommen, auf dem eine Ratte saß. Wir haben „Moses“ gerufen, so laut wir konnten, aber sie hat nur einmal kurz zu uns geschaut. Es war leider nicht Nathans Ratte. Er fehlt uns sehr. Wir haben die Antenne auf dem Dach abgebaut und in die Fluten geworfen. Die letzten Nachrichten berichteten von Dingen, die unmöglich stattfinden dürfen und die noch nie stattgefunden haben, wir wollten nichts davon erfahren. Grete ist sehr schön geworden, das Regenwasser ist tatsächlich gut für die Haut. Sie hat beschlossen, von uns zu gehen. Wir sind sehr traurig geworden, dann hat sie uns den letzten Liebesbrief von dem Unbekannten vorgelesen, und wir haben sie verstanden. Wir hatten keinen Wein mehr, um sie zu verabschieden. Als sie von uns weggeschwommen ist, haben wir ihr zugeschaut, bis es dunkel wurde und noch länger. Morgen wollen wir eine große Fahne auf dem Dach anbringen, man weiß es nie, vielleicht möchte sie wiederkommen, und das würde ihr die Rückkehr erleichtern.

 

Viel später
Das Wasser steigt immer noch. Ich habe in der Hauptstraße Delfine gesehen. Ich werde in dieselbe Richtung schwimmen. Die anderen wollen lieber im Speicher bleiben, bis Hilfe kommt. Vielleicht haben sie Recht, vor einigen Monaten ist noch ein Hubschrauber in einiger Entfernung geflogen. Sie haben gesagt, es würde bestimmt nicht mehr lange dauern, und ich sollte es mir noch einmal überlegen, aber seitdem ich die Delfine gesehen habe, möchte ich nicht mehr hier warten. Heute ist ein guter Tag zum Schwimmen, das Wasser ist angenehm warm, ich schreibe diese letzten Worte und stecke das Papier in die Flasche, dann werde ich mich davonschleichen, ich will die anderen nicht weinen sehen. Ich freue mich so sehr auf die Delfine.

Projekt

Wetterberichte

Jahr

2003/04

Kategorie